Pressemitteilung, 17.06.2021: Baden-Württemberg verfügt europaweit über die bedeutendsten Streuobstbestände. Sie zählen mit rund 5000 Tier- und Pflanzenarten zu den artenreichsten Lebensräumen in Mitteleuropa. Dazu sind sie ein wertvolles Gen-Reservoir für rund 6000 Obstsorten allein in Deutschland.
Von der Kultusministerkonferenz als Immaterielles Kulturerbe geadelt, ist der Streuobstanbau nicht nur prägend für unsere Kulturlandschaft, sondern auch ein fester Bestandteil unserer Traditionen, die sich auch in Streuobst-, Apfelwein-, oder Obstblütenfesten wiederspiegeln. Das Wissen um den Anbau und die Bedürfnisse der ganz unterschiedlichen Obstsorten sowie traditionelle Handwerkstechniken bei der Pflege sind für den Erhalt des Streuobstanbaus ebenso entscheidend, wie das Weiterbestehen der Streuobstbestände.
Doch dieses Kulturerbe ist auch im Ländle bedroht. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts gehen die Streuobstbestände in ganz Europa und auch Baden-Württemberg zurück. Von etwa 18 Millionen Streuobstbäume im Jahr 1965 waren 2020 nur noch gut sieben Millionen übrig, was einem Rückgang um rund 60 Prozent entspricht. Somit wird der Raum für eine lebendige kulturelle Praxis wie auch der Lebensraum vieler Tier- und Pflanzenarten immer kleiner. „Gründe dafür sind einerseits die meist nicht rentablen Preise für Mostobst, verändertes Verbraucherverhalten und eine verfehlte Agrarpolitik“, so Markus Rösler, Streuobstexperte und naturschutzpolitischer Sprecher der Grünen Landtagsfraktion und ergänzt: „Weiterhin sind Streuobstbestände auch durch Bebauung gefährdet, wenn Kommunen neue Flächen in Ortsrandlage erschließen. Der Konflikt führt hierbei nahezu immer zur Rodung der Streuobstbestände. Ein Umstand, dem die grün-schwarze Landesregierung durch das Biodiversitätsstärkungsgesetz im Juli 2020 entgegengewirkt. Seither sind Streuobstbestände über den § 33a grundsätzlich geschützt. Aber auch vor Ort in den Kommunen muss ein stärkeres Bewusstsein für den unschätzbaren Wert von gepflegten Streuobstbeständen Einzug finden.“
Ein solcher Konflikt zeigt sich am Beispiel „Herzbohnengarten“ in Neuhausen: seit 1989 wird die dortige Streuobstwiese unter großem persönlichen Engagement der Ehrenamtlichen der hiesigen BUND-Ortsgruppe gepflegt und naturkundlich weiterentwickelt. Mit großen Erfolg: nicht nur die rund 230 ertragreichen Hochstamm-Obstbäume sind das Resultat der in über dreißig Jahren in das Streuobstwiesenprojekt investierten Mühen. Das Streuobstwiesen-Biotop liegt zum Teil im FFH-Gebiet (Würm-Nagold-Platte) und viele seltene Arten, die inzwischen überall um jeden Meter Lebensraum ringen, haben über die Jahre im Herzbohnengarten eine Heimat gefunden.
Obwohl die Streuobstwiese unstrittig von großer Bedeutung sowohl für das dortige Landschaftsbild als auch für den Artenschutz ist, möchte die Gemeinde dort Baugrundstücke ausweisen. Ein Teilbereich der dortigen Streuobstwiese soll dabei für das Bauvorhaben in Anspruch genommen werden. Die geplante Errichtung von Einfamilienhäusern wird mit dem Bedarf an Wohnraum begründet.
„Diese gewachsene, naturschutzfachlich äußerst wertvolle Struktur, die sich über mehrere Jahrzehnte hier entwickelt hat, würde in einem Handstreich massiv beeinträchtigt und teilweise zerstört. Viele der hier lebenden Tiere sind hoch spezialisiert und können nicht einfach an einen anderen Ort verbracht werden“, erläutert Stefanie Seemann, Grüne Abgeordnete für den Enzkreis. Demnach zähle auch die Argumentation nicht, es gäbe ja noch genügend Obstwiesen in der Umgebung. „Wenn wir so bei jeder Wiese vorgehen, haben wir bald keine mehr. Aus meiner Sicht steht dieser Verlust in keinem Verhältnis zum erbrachten Nutzen. Zunächst sollten Möglichkeiten zur Nachverdichtung genutzt werden. Ich würde mir hierfür ein größeres Bewusstsein in den Kommunen und Gremien wünschen, aber auch bei den Bürgerinnen und Bürgern, dass sie sehen, welchen unglaublichen Schatz wir hier verwalten,“ so Seemann weiter. „Ich ermuntere die Menschen vor Ort, sich weiterhin und verstärkt für die Erhaltung von Streuobstwiesen einzusetzen. Die Leute kennen am besten die Streuobstwiesen und deren Vielfalt vor der eigenen Haustüre.“ Das Arteninventar ist Teil der Grundlage für die weitere Bewertung durch die Untere Naturschutzbehörde. Deshalb ist wichtig, dass in den Umweltgutachten alle dort lebenden Arten in Flora und Fauna aufgeführt werden. Es lohnt sich, hier dem Anspruch gerecht zu werden, unsere Biologische Vielfalt zu erhalten und dem Insektensterben entgegenzuwirken.
Dazu benötigen wir unsere Streuobstwiesen als Schatzkammern für Biologische Vielfalt. Daher wurde der § 33a zum Streuobst-Schutz im Naturschutzgesetz eingeführt. Sinn und Zweck ist es, Streuobstbestände in möglichst großem Umfang zur erhalten und hierbei ausdrücklich und speziell dem fortschreitenden Verlust von Streuobstbeständen durch Umwandlung in Wohnbebauung zu begegnen. Des Weiteren hat sich die neue Grün-Schwarze Landesregierung im Koalitionsvertrag verpflichtet, landeseigene ökologisch wertvolle Flächen zu sichern, zu pflegen und im Landeseigentum zu behalten. „Wir werden uns weiterhin vehement dafür einsetzen, dass dieser Anspruch umgesetzt wird,“ so Rösler und Seemann abschließend, die hierzu unter anderem eine parlamentarische Initiative gestartet haben. „Der Verkauf von Landesflächen müsste nicht nur vom Finanzministerium, sondern auch vom Finanzausschuss abgesegnet werden – das wird sicher auch dort kritisch geprüft“, kommentiert Rösler, der zugleich AK-Vorsitzender Finanzen der Grünen im Landtag ist.
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